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„Ich habe nichts zu verlieren“, sagte Laura Siegemund noch am Sonntag, nachdem sie zum ersten Mal ins Viertelfinale von Wimbledon eingezogen war und sich eine Begegnung mit der Nummer eins der Welt, Aryna Sabalenka, gesichert hatte. Und genauso trat die 37-Jährige in der Runde der letzten Acht am Dienstag an. Sie war cool, selbstbewusst und setzte genau das um, was sie sonst auch immer tat: nicht auf die Gegnerin schauen, den Fokus auf sich legen und auf die eigene Taktik und Routinen konzentrieren.

Den Fakt, dass sie gegen die amtierende Nummer eins und die dreifache Grand-Slam-Siegerin antrat, schien Siegemund nicht zu interessieren. Ihr Interesse galt eher der Power, die sie von der Grundlinie erzeugte, und den Tempowechseln mit Slice oder Stoppbällen, mit denen sie schon ihre vorherigen Gegnerinnen, darunter die Australian Open-Siegerin Madison Keys, bezwungen hatte.

Schließlich dauerte es keine zehn Minuten, bis die Deutsche mit 3:0 und zwei Breaks in Führung ging. Allerdings ist es auch keine Seltenheit, dass die Belarussin ein paar Ballwechsel braucht, um in der Partie anzukommen und ihren Aufschlag zu finden. Stück für Stück wurde das Match nicht nur intensiver – von den Ballwechseln her – sondern auch lauter, da beide Spielerinnen ihrer Power auch Gehör verschafften.

Dass Siegemund bei 5:2 und eigenem Aufschlag den Satz nicht nach Hause bringen konnte, entmutigte sie aber keineswegs. Stattdessen brachte sie zwei Spiele später ihr Aufschlagspiel durch und ging nach 55 Minuten mit 6:4 in Führung.

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Sabalenka wird lauter – Siegemund cooler!

Während Siegemund ganz bodenständig ohne große Emotionen bei sich blieb und sich beim Seitenwechsel kurzzeitig unter ihrem Handtuch verkroch, konnte man beobachten, wie Sabalenka immer weiter ins Grübeln geriet und sich ärgerte. Die Belarussin kehrte schließlich nach einer Toilettenpause noch energiegeladener auf den Platz zurück. Ihr Ziel war klar: das Match drehen. Noch lauter und noch aggressiver trat Sabalenka nun auf. Was sich aber nicht veränderte: Laura Siegemund. Völlig unbeeindruckt von dem dominanten Verhalten der Weltranglisten-Ersten und davon, dass Sabalenka mit einem Break in Führung ging, blieb die 37-Jährige sich selbst treu. Ihr Fokus – unverändert. Und so folgte ohne viel Tamtam unmittelbar das Rebreak der Deutschen.

Allerdings war Sabalenka noch lange nicht bei ihrer bissigsten Performance angekommen. Denn von Minute zu Minute wurde sie nun lauter, befeuerte ihre Schläge weiter mit lautem Stöhnen und Come-On-Rufen. Ebenso tatkräftig sprang ihr Team nun auf, um sie zu unterstützen. Und mit genau dieser geballten Power gelang es der 27-Jährigen dann, Siegemund immer weiter nach hinten zu drängen und den zweiten Satz mit 6:2 für sich zu entscheiden.

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Laut, Lauter, Sabalenka: Je deutlicher man Aryna Sabalenka hören konnte, desto klarer wurde auch, in welcher Bedrängnis sie sich befand.

Laut, Lauter, Sabalenka: Je deutlicher man Aryna Sabalenka hören konnte, desto klarer wurde auch, in welcher Bedrängnis sie sich befand.

Nach dem Satz-Ausgleich war es dann Siegemund, die in Richtung der Katakomben verschwand und ihre Gegnerin warten ließ. Eine weitere Taktik, die sich für die 37-Jährige in der Vergangenheit des Öfteren bewährt hatte. Wobei sie betonte: „Ich weiß, dass ich ein paar umstrittene Verhaltensweisen habe. Was ich dazu sagen kann, ist, dass es dabei wirklich um mich geht.“

Und eben das zeigte Siegemund auch im dritten Satz erneut. Ein Blick zu Sabalenka? Fehlanzeige! Wutausbrüche oder Freudensprünge? Ebenfalls Fehlanzeige! Unabhängig vom Spielstand, ob sie ein Break vor- oder zurücklag, präsentierte die Deutsche stets die gleiche Persönlichkeit: Sie war cool, ruhig und fokussiert.

Im Gegensatz dazu konnten die 15.000 Tennisfans auf dem Centre Court die emotionalen Höhen und Tiefen mit Sabalenka gemeinsam erleben. Als sie das Rebreak zum 4:4-Ausgleich schaffte und schließlich mit 5:4 in Führung ging, ließ sie einen lauten Schrei los. Den Tiger, den sie auf dem linken Unterarm tätowiert hat, verkörperte sie nun umso mehr.

Unter Standing Ovations und tosendem Applaus

Am Ende waren es dann minimale Nuancen, vielleicht jene von etwas mehr Power der Belarussin und nachlassender Kräfte der Deutschen, die das Match nach fast drei Stunden entschieden. Letztlich war es ein Schmetterball der Weltranglisten-Ersten, der ihren 4:6, 6:2, 6:4-Einzug ins Halbfinale besiegelte.

Dass Laura Siegemund aber auf eine mehr als gelungene Woche zurückblicken kann, bewies zuallererst die herzliche Umarmung von Sabalenka und schließlich auch die Standing-Ovations, die die Deutsche vom Publikum bekam, als sie den Platz verließ. Der tosende Applaus konnte ihr dann doch ein zufriedenes Lächeln abgewinnen.

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Lächelnd verabschiedete sich Laura Siegemund vom Publikum in Wimbledon.

Lächelnd verabschiedete sich Laura Siegemund vom Publikum in Wimbledon.

„Nach dem ersten Satz habe ich zu meiner Box geschaut und gedacht: ‚Leute, ihr könnt die Tickets nach Hause buchen!'“, sagte Sabalenka nach der Partie im On-Court-Interview.

Sie hat ein unglaubliches Match gespielt und eine unglaubliche Woche.

„Sie hat ein schlaues Spiel, man muss um jeden Punkt kämpfen. Ich wollte nicht, dass sie sieht, dass ich genervt bin, was ich manchmal war“, lächelte Sabalenka. Dabei bestand sie aber auch darauf, dass sie Siegemunds Spielstil unter keinen Umständen als „nervig“ bezeichnen wolle, denn ihr Spielstil sei sehr erfolgreich, intelligent und herausfordernd.

Auch wenn es am Ende nur wenige Punkte waren, die Siegemund zum Einzug ins Halbfinale gefehlt haben, kann sich die Deutsche nach diesen zwei Wochen zufrieden auf die Schultern klopfen. Denn was sie sich und der Tenniswelt bewiesen hat: Es lohnt sich, sich selbst und dem eigenen Spiel stets treu zu bleiben und den Glauben nie zu verlieren – ganz egal, wie alt man ist.

Ihren Verdienst wird Siegemund dann nach dem Turnier nicht nur auf ihrem Konto sehen – sie hat über 460.000 Euro in diesen Tagen erspielt – sondern auch in der Weltrangliste. Denn hier platzierte sie sich wieder unter den besten 100 Spielerinnen und steht kurz vor dem erneuten Einzug in die Top 50.